Ich bin früh wach, kurz nach 4 Uhr. Das ist gut; ich möchte heute über 100km fahren und den höchsten Punkt der geplanten Runde (Capital to Mountain Gravel Loop von Cycle Norway) anfahren. Trotzdem brauche ich sehr lange, um loszukommen. Erst verstecke ich mich in meinem Schlafplatz vor der Kälte. Als es mir dann warm genug ist, in die Gänge zu kommen, sehen die Mücken das leider ähnlich. Also gleiches Spiel wie gestern: ich renne herum, versuche den Mücken zu entfliehen. Mein Fahrrad versuche ich größtenteils mit Oberkörper im Zelt zu packen, nur die Extremitäten schauen raus. Irgendwann ist es geschafft, zumindest verheilen die Stiche der winzigen Mücken ziemlich schnell.

Mein Fahrrad und ich haben mittlerweile eine ausgeklügelte Balance Technik um Bäche zu durchqueren. Wir stützen uns gegenseitig, und so komme ich auch heute morgen wieder durch das ein oder andere Hindernis. Den ersten Fluss morgens nutze ich auch gleich, um Wasser zu filtern. Eine Herde Kühe wird immer neugieriger (oder hat Durst), rennt dann aber vor mir davon, als ich weiterziehe. Die norwegischen Kühe sind definitiv schreckhafter als die, die ich aus den Alpen kenne.

Ich höre heute Morgen “Algorithms to Live By”, ein Buch, das Ergebnisse aus Mathe und Informatik als Entscheidungs- und Suchmethoden für den Alltag. Die Intuitionen daraus nutze ich, um einen Platz für mein zweites Frühstück zu finden (ich kriege um 9 Uhr schon wieder Hunger). Statt am erstbesten Stein anzuhalten, möchte ich mir ein schönes Fleckerl suchen. Auf den ersten Blick bin ich darin sehr erfolgreich. Leider lässt sich rein optisch schlecht feststellen, wie mückengeplagt ein Platz ist. Also verbringe ich auch mein Essen damit, vor Mücken zu fliehen. Ein Knäcke halb schmieren, dann wieder eine Runde vor den Mücken davonrennen, dann weiter schmieren. Mal wieder muss ich einen amüsanten Anblick abgeben.

So gestärkt komme ich gut voran. Ohne dass diese sich dessen bewusst sind, versuche ich mit einer Gruppe E-Bikern mitzuhalten. Auf dem ersten Anstieg überholen sie mich, aber auf dem auf und ab danach gebe ich genug Gas, um sie letztendlich weit hinter mir zurück zu lassen. Wie viel Freude ich daran habe, ist vermutlich etwas lächerlich.

Meine Mittagessensplatzwahl ist auch sehr erfolgreich. Die Stromschnellen, an denen ich halte, laden ein, sich vorzustellen, dass eine Gruppe Braunbären am Rand steht und Lachse angelt. Keine Vorstellung, die meiner Mutter so gut gefallen würde (ich bin tatsächlich im Bärengebiet). In echt angeln hier nur andere Homo sapiens. Ich nehme mir Zeit für mein Mittagessen und genieße die Sonne. Mein Solarladegerät lädt in der Zwischenzeit brav meine Geräte.

Dann, endlich, bin ich am Fuß des großen Anstieges für heute. Die Szenerie erinnert mich ganz genau an Ischgl, wo mein Papa und ich letztes Jahr auf unserem Transalp durchgefahren sind. Ich stehe wieder im Tal und blicke auf die Steilhänge und Lifte eines Skigebietes vor mir. Der Stil der Skihotels, die im Winter die Massen versorgen und im Sommer leer stehen, wirkt in Norwegen genauso unpassend wie in Ischgl. Und neben den Pisten, rechts hinter den Hotels, geht auch hier der steile Asphaltweg in Serpentinen den Berg hoch. Der einzige Unterschied: hier gibt es keinen Kirchturm, an dem ein angeseilter Mensch Reperaturarbeiten macht. Und mein Fahrrad ist diesmal vollbeladen, hat aber gleichzeitig weniger kleine Gänge.

Abgesehen davon, dass mir bergauf fahren Spaß macht, lohnt sich der Anstieg so richtig. Es wird hier richtig schön, ich bin über der Baumgrenze. Ich bin jetzt wirklich in den norwegischen Bergen. Ich habe Freude mental einen Schritt zurück zu nehmen und darauf zu blicken, dass ich hierher ganz von München aus geradelt bin! Auf der Hochebene genieße ich den Blick und das Schauspiel der Wolken - das aber auch den morgigen Regen ankündigt.

Nach einer rasanten Abfahrt - ich halte nur kurz un ein paar Ziegen und Schafe zu beobachten - komme ich im Tal an. Ich bin vollkommen fertig, so müde war ich auf meiner Tour bisher noch nicht. Ich will keinen Meter weiter, und als ich eine schöne Wiese sehe, klopfe ich beim Haus nebenan in der Hoffnung, dass ich dort übernachten darf. Wild campen ist zwar in Norwegen erlaubt, aber mir fehlt die Energie einen Schlafplatz zu suchen.

Eine junge Frau macht mir auf, nur ein wenig älter als ich. Die Wiese gehört ihr nicht, aber sie verweist mich auf eine andere Wiese, nur ein paar hundert Meter entfernt. Zu meiner großen Freude kommt sie, Ingrid, dann auch mit ihrem Hund Niels und zwei Bier zu mir zur Wiese. Sie wollte sehen, ob ich sie auch richtig gefunden habe. Wir unterhalten uns eine ganze Weile. Sie ist (wie viele Norweger*innen) auch ein Bergmensch, und hält sich mit Hund, Pferd und Arbeit als Krankenpflegerin ziemlich beschäftigt. Vielleicht inspiriere ich sie ein wenig, sich ihren Traum zu erfüllen, auf einer Pferderanch in den USA zu arbeiten.

Danach bin ich verhältnismäßig unorganisiert und chaotisch. Es hilft nicht, dass mich jetzt auch hier die Mücken gefunden haben - hier sind es die großen, die man aus Süd- / Mitteleuropa auch kennt. Mein Abendessen entspricht dem Chaos: es gibt Ramen mit Kartoffelbrei und Pölser - kein kulinarisches Highlight, aber warm und füllend.

Ingrid hat mir noch eine Hütte empfohlen, und ich entscheide, diese morgen anzusteuern. Es ist für den ganzen Tag Regen angesagt, und ich denke, ich werde mich über eine warme Hütte freuen. Außerdem führt meine Strecke von hier lange durchs Tal, und ich möchte lieber wieder auf den Berg.